Die Gegenwart als Vorvergangenheit der Zukunft

Während das Neue durch Evolution und einen Rückgriff auf die
Vergangenheit entsteht, benötigt die Zukunft kritische Leitbilder im Jetzt. Über die neue Rolle der Gestaltung in einer sich immer schneller verändernden Welt.

Gestaltung mit Geschichte

Wir leben in einer Zeit des ständigen Fortschritts. Für Unternehmen bedeutet dies, Produkte ständig zu überarbeiten und stets neue Innovationen zu bieten. »Das Dogma des permanenten Fortschritts ist die treibende Kraft, aus der eine schier unübersichtliche Anzahl an Produkten, Kommunikationsformen und Verbesserungen unseres täglichen Lebens entsteht«, meinte 2005 Victor Margolin.1 Wie die Mode, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur unterwirft sich auch das Kommunikationsdesign einem andauernden Wechsel aus Wiederkehr, Zitat und Aushebung der Vergangenheit. Wir sind die Neuen, das Jetzt ist unsere Welt. Wir machen das Jetzt besser als das Alte. Innovation!

Wir streben fortwährend danach, Neues zu entwickeln: Woher aber kommen diese Neuheiten? Vorab: Wirkliche Neuerungen können wir gar nicht erkennen. Etwas vollkommen Neuartiges, Anderes als alles Bisherige können wir weder erfassen noch begreifen. Das Neue passiert in kleinen Veränderungen und erst im Vergleich mit älteren Modellen verstehen wir, was neu und anders ist.

Die Zukunftsgestaltung erfolgt in evolutionären Schritten und entsteht häufig durch einen Rückgriff auf die Vergangenheit. Die visuelle Kommunikation bedient sich an in der Vergangenheit entwickelten Codes und baut auf diesen auf, um neue Aussagen im Jetzt zu entwickeln. Kontexte der Vergangenheit werden zitiert, paraphrasiert, übersteigert und negiert, um ein neues Element in einen größeren Komplex einzubinden. Der aktuelle Trend im Kommunikationsdesign wird durch eine Formensprache gekennzeichnet, die sich auf die klassische Strenge der Schweizer Grafik bezieht. Selbst im Bereich der Schriftgestaltung werden derzeit klassische Buchstabenformen aus den 1960er-Jahren erneut interpretiert. Leider finden sich derartige Zitate meist nur bei den bekannten Klassikern, obwohl gerade damals sehr experimentelle, weit zukunftsweisendere Ansätze vorhanden waren.
Flo Gaertner beschreibt in einem Artikel des Magazins Slanted2 ein gewisses Desinteresse an utopischen Entwürfen im Typedesign. Diese Müdigkeit am Experimentieren lässt sich mit dem Aufkommen des Macintosh-Computers in den 1990er-Jahren und dem Umstand erklären, dass damals beinahe jede/r Schriften selbst zeichnen, verwenden und verteilen konnte, sodass eine Vielzahl an experimentellen Formen des lateinischen Alphabets entstand. Also fragt man sich: Wäre es nicht längst wieder Zeit für eine Revolution in der Gestaltung? Und: Wo bleibt nun die Innovation?

Für GestalterInnen ist es unabdingbar, die historischen Zusammenhänge visueller Codes zu kennen. Kennen sie die nicht und benutzen ein x-beliebiges visuelles Element aus der Vergangenheit, um einen vermeintlich »neuen« Ausdruck im Jetzt zu vermitteln, dann werden Oberflächlichkeiten lediglich für den Glanz irgendeiner »newness« missbraucht. Das Kommunikationsdesign geriet so in den Verruf, oberflächlich zu sein und nur den Interessen einer konsumorientierten Gesellschaft und deren NutznießerInnen entgegenzukommen. Doch gab es immer wieder Kritik aus den eigenen Reihen. Bereits 1964 veröffentlichte der britische Designer Ken Garland ein prägnantes Manifest mit dem Titel »First Things First«. Darin wurde die Leidenschaft des Metiers für die Produktion unbedeutender kommerzieller Arbeit verurteilt. Man solle doch bloß nicht die hundertste Wegwerf-Verpackung für Frühstücksflocken gestalten, sondern stattdessen die Betonung der eigenen Arbeit auf Projekte legen, die einen höheren Nutzen für die Menschheit darstellten. Das Manifest wurde von 22 DesignerInnen und visuellen GestalterInnen unterzeichnet, geriet aber bald wieder in Vergessenheit. 1999 wurde es mit unwesentlichen Veränderungen im Magazin Adbusters3 wieder veröffentlicht und – wie bereits beim ersten Mal – von einer Reihe von Kreativen unterzeichnet. Der Grundgedanke war derselbe: Es sollte die Branche aufrütteln und ein Bewusstsein dafür schaffen, dass das handwerkliche Vermögen der visuellen Kommunikation einem höheren Nutzen der Menschheit dienen solle.

Das veränderte Jetzt

Innovation, Start-ups und Co: Das Interesse an Neuentwicklungen ist weit verbreitet und häufig ökonomisch motiviert. Dennoch entzieht sich dieser anhaltende Strom an Neuheiten der Fähigkeit der meisten von uns, seine Auswirkungen zu verstehen oder die Gesamtheit der Veränderungen, die er mit sich bringt, zu erfassen.4 Für KonsumentInnen ist es schwer zu erkennen, ob Innovationen tatsächlich der Verbesserung unserer Bedürfnisse bzw. der Lösung unserer Probleme dienen oder ob damit nur neue Probleme entstehen.

Welche Rolle Design künftig spielen soll/wird, ist das aktuelle Thema für GestalterInnen derzeit – Grafikdesigner Florian Pfeffer räsoniert darüber in seinem Buch »To Do: Die neue Rolle der Gestaltung in einer veränderten Welt«.5 Nach der Industriellen Revolution und den Veränderungen, die die Elektrifizierung nach sich zog, finden wir uns nunmehr mitten im nächsten großen Wechsel: Die Form der Kommunikation hat sich vom Prinzip des »one to many« zum »ein jeder kommuniziert mit jedem« gewandelt. Die Vernetzung großer Datenmengen führt zur Datenerhebung und bringt weitreichende Veränderungen mit sich. Über den Ausgang dieses soziotechnischen Experiments kann heute nur spekuliert werden. Vielleicht ist es gerade die Komplexität unserer vernetzten globalisierten Welt, die uns wünschen lässt, ihrer Unübersichtlichkeit mithilfe von klaren und gut strukturierten Designs begegnen zu können: Wenn wir uns mitten in einer Kommunikations-Revolution befinden, dann begegnen wir ihr bitte mit klaren und einfachen (visuellen) Botschaften. Nur – so einfach ist das nicht!

Natürlich geht es auch heute noch darum, Symbole zu erzeugen, doch es gilt auch jene gestalterische Aufgabe zu übernehmen, die eine soziale Interaktion mit den vernetzten Dinglichkeiten und den Menschen untereinander ermöglicht. Dabei ist ganz wesentlich, dass die Bedürfnisse des Menschen im Mittelpunkt der Gestaltung stehen. Ungeachtet dessen, ob man IDEOs Human-Centered-Designansatz6, dem Design-Thinking-Prozess der Stanford d.school7 oder den Konzepten des britischen Design Councils8 folgt, alle diese Methoden verfolgen das Ziel, maßgeschneiderte Designlösungen für die Bedürfnisse und individuellen Probleme von Menschen zu entwickeln. Im Zuge des Prozesses werden möglichst großes Verständnis und Empathie für die Zielgruppe entwickelt.
Ideen werden generiert und mithilfe von schnellen ersten Prototypen – sei es ein ausgedrucktes Dummy für ein Magazin, ein Papierprototyp zum Testen des Nutzerverhaltens einer neuen Webapplikation oder eine schnelle Skizze für eine Datenvisualisierung – an der Zielgruppe getestet. Am Ende versucht man eine neue, für die Bedürfnisse passende Lösung in die Welt zu setzen.

Die Aufgaben von GestalterInnen gehen daher weit über oberflächliche Behübschung oder Kaufverführungen mittels Design hinaus. DesignerInnen müssen sich bewusst sein, dass auch sie an gesellschaftlichen Transformationsprozessen beteiligt sind. Die Aufgabenstellung richtet sich daher verstärkt und zunehmend auf die gestaltete Kommunikation sozialer Interaktionen zwischen Menschen, Unternehmen und Organisationen sowie auf die sich daraus ergebenden Vernetzungen innerhalb eines Kontexts aus. Fragestellungen dazu lauten beispielsweise: In welcher Welt möchten wir leben? Ist Geiz ist geil wirklich ein wünschenswertes Ziel innerhalb unserer Gesellschaft?

Julia-Constance Dissel schreibt in ihrer Einleitung zu
Design und Philosophie provokativ: »Während es z.B. in den Ingenieurwissenschaften und in der Architektur ausgefeilte Ethik-Codes gibt und Themen der Moral und Verantwortlichkeit im Umfeld von Robotik, Kybernetik und Gentechnologie die philosophische Aufmerksamkeit durchaus auf sich ziehen, existiert auf der anderen Seite des Designs, das gilt besonders für das Kommunikationsdesign, aber auch für das Produktdesign, kein philosophisch fundierter Diskurs über die begrifflichen wie konzeptuellen Grundlagen der moralischen und sozialen Verantwortlichkeiten, geschweige denn ein Konsens über ethische Kategorien zur Handlungsorientierung.«

Design macht Zukunft

Als GestalterInnen nehmen wir eine kritische Funktion im Gefüge der Welt ein. Wir haben gelernt, uns vorzustellen, wie die unterschiedlichsten Dinge auch anders aussehen oder anders funktionieren könnten. Cameron Tonkwise behandelte diesen Aspekt 2015 in einem Artikel auf medium.com10, in dem er meinte: »Im Prozess des Gestaltens steckt daher auch immer eine Form von Kritik am Vorhandenen und ein sorgfältiges Abwägen des Kommenden. Unsere Verantwortung als DesignerInnen ist daher enorm und es gilt, gesellschaftlich relevante Komponenten im Designprozess nicht zu vernachlässigen, denn Design erzeugt Zukunft. Als DesignerInnen sind wir immer ein Stück weit mit verantwortlich, wie die Zukunft aussehen wird und in welcher Zukunft wir später leben werden. Mit jeder Broschüre, mit jeder Website, mit jeder App wird ein Bild entwickelt, das sich in den Köpfen der Menschen festsetzt.«

Wir konzipieren zukünftige Realitäten und wünschen uns mit jedem neu gestalteten Element, dass die Welt ein Stück weit besser wird. Warum sonst bräuchte es überhaupt ein neues Design? Design trägt den Wunsch nach Lösungen und Verbesserungen von Problemen in sich. Es liegt daher an uns, im Vorfeld kritisch an eine Designaufgabe heranzugehen und zu überprüfen, ob die Zukunft, die wir mitgestalten, auch tatsächlich jene Zukunft ist, in der wir später einmal leben möchten.

Im Sinne des Titels von Richard Buckminster Fullers Buch »Utopia or Oblivion« – zu deutsch: Utopie oder Vergessen – sollten wir Kreative uns vor Augen halten: Wenn wir uns weiterhin auf kleine ästhetische Probleme konzentrieren, wird unsere Arbeit schnell vergessen sein. Doch wenn wir uns auch im Design den großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit stellen, sind wir vielleicht in der Lage, neue Utopien zu entwickeln.

1 The citizen designer, by Victor Margolin, in Looking Closer 5: Critical Writings on Graphic Design, by Michael Bierut, William Drenttel, Steven Heller (ed). Allworth Press, New York 2006
2 Flo Gaertner, Erinnerungstäuschung II in Slanted #14, Karlsruhe 2011
3 Adbusters, Ausgabe »Graphic Agitation«, Vancouver, 1999
4 Victor Margolin
5 Florian Pfeffer, To Do: Die neue Rolle der Gestaltung in einer veränderten Welt. Verlag Hermann Schmidt, Mainz, 2014
6 Siehe: www.designkit.org
7 Vergleiche: ModeGuideBOOTCAMP2010
8 Siehe: designcoucil.org.uk
9 Dissel, Julia-Constance (Hg.). Design & Philosophie, Schnittstellen und Wahlverwandtschaften, transcript Verlag. Bielefeld. 2016
10 Just Design by Cameron Tonkwise.

Autoren: Tina Frank, Marianne Lechner (Pührerfellner)